Texte von, für und über Michaela Schwarzmann

Michaela Schwarzmann  „nähe und wachse“
Ausstellung Ebern, Xaver Mayer Galerie 2018
Einführung: Dr. Barbara Kahle

Michaela Schwarzmanns Metier ist in erster Linie das Papier! Das klingt sehr banal – angesichts der täglichen Papierflut -, ist es aber ganz und gar nicht.  Papier ist seit jeher ein elementarer Bestandteil von künstlerischen Arbeit, […]   » weiterlesen

Ausstellung „Hortus apertus“ –
offener Garten im Pavillon der Klosteranlage St. Michael Bamberg, 2021
Einführung von Dr. Matthias Liebel, Kunsthistoriker

Von ziemlich anderer Art sind die Arbeiten von Michaela Schwarzmann – inhaltlich, werktechnisch und auch motivisch. Nach ihrer Ausbildung an der Porzellanfachschule in Selb absolvierte sie […]   » weiterlesen

Michaela Schwarzmann  „nähe und wachse“

Ausstellung Ebern, Xaver Mayer Galerie 2018
Einführung: Dr. Barbara Kahle

 

Michaela Schwarzmanns Metier ist in erster Linie das Papier! Das klingt sehr banal – angesichts der täglichen Papierflut -, ist es aber ganz und gar nicht.  Papier ist seit jeher ein elementarer Bestandteil von künstlerischen Arbeit, fristete aber  lange Zeit eher ein Schattendasein neben der Leinwandmalerei und war nur gebräuchlich als Bildträger für Studienskizzen, Vorzeichnungen oder für die Druckgrafik. Und natürlich basiert unsere gesamte schriftliche Kultur auf der Erfindung des Papiers.

In der Kunst der Gegenwart behauptet sich Papier nun ganz eigenständig gegenüber anderen Werk-Materialien. Im Rahmen der künstlerischen Arbeit wird es zwar weiterhin bemalt, bedruckt und aquarelliert, es dient weiterhin als Skizzenblock; es lassen sich aber auch andere Dinge damit anstellen: falten und reißen, formen, knicken und knüllen, –  Das Material kommt je nach Qualität und Technik der Bearbeitung mal zart und fragil, transparent oder opak, mal robust und rau daher. Es ist fragil und flexibel, vergänglich, ja, – kann aber auch durchaus widerstandsfähig sein, vereint also ganz widersprüchliche Qualitäten in sich. Papier ist geduldig! – diesen Spruch kennen Sie alle.

Papier wird seit Beginn der Moderne auch als Material verwendet, um Collagen zu erstellen oder plastische Objekte zu formen. Pablo Picasso war einer der ersten, der bereits 1912 Skulpturen nicht mehr nur aus Marmor oder Bronze herstellt, sondern Papier verwendet. Aus einzelnen abstrakten Formen konstruierte er eine Gitarre. Für den Werkstoff spricht  zum einen seine unmittelbare Zugänglichkeit, zum anderen auch seine unmittelbare Bearbeitbarkeit.

Dieses zeitlose und neutrale Element ist also ein wandelbares Material, das eine ungeheure künstlerische Vielfalt bereit hält, und gerade diese Ausstellung ist ein wunderbares Beispiel für diesen Reichtum. Michaela Schwarzmann bewegt sich mit ihren Arbeiten in all diesen Möglichkeitsräumen, findet dabei aber ihre ganz eigene Ausdrucksweise.

Da sind zum einen die poetischen Papierobjekte: schwerelos und fragil mit raumgreifender Plastizität. Die Kleider oder Hemdchen hier in den Schaufenstern nehmen natürlich Bezug auf den Ort als ehemaliges Bekleidungshaus – Einheimische werden sich erinnern! Wie die Räume  tragen sie die Anmutung des Vergangenen in sich. Papier wird hier textil verwendet, was gar nicht so ungewöhnlich ist, hat man doch in Japan schon vor über 1000 Jahren Papierkleider gefertigt. Edle Stoffe aus Papiergarn verdrängten um 1700 sogar die kostbare Seide.

Das Ausgangsmaterial, einfache weiße Papierbögen, wurde mit Öl behandelt und bekommt so etwas Transluzides. Die Kleider werden sozusagen durchlässig und thematisieren damit auch das von ihnen Verhüllte, den Körper, das Volumen aus Licht.  Bei diesen Objekten geht es eben nicht um Modedesign, das ja oft an der Oberfläche behaftet bleibt. Es geht durch das Papier-Textile hindurch, ja sogar unter die Haut. Denn in Verbindung mit dem Licht bewirken die Falten und kleinen Knitter-, Fältchen im Material, dass wir das Gefühl von Haut assoziieren. Textilien sind ja dem menschlichen Körper so nah, dass man sie als zweite Haut bezeichnet.  Und so lassen uns diese Objekte nachdenken über das Verhältnis Körper, Haut und bis hinein in das Innere des Menschen.

Im Obergeschoß finden Sie weitere Papierobjekte, mehrere Schalen und kokonartige Gebilde  auf den Fensterbänken, die in ihrer reduzierten Gestaltung Ruhe und Ausgewogenheit ausstrahlen. Auch hier spielt das Lichthafte wieder eine entscheidende Rolle, formt Raum und Umraum der fragilen Körper, die irgendwie auch verletzlich wirken. In ihrer Leere und schwebenden Leichtigkeit sind sie eher Meditationsobjekte als funktionale Gerätschaften.

Michaela Schwarzmann formt diese feinen Skulpturen aus einfachem Papier, manchmal ist es auch ölgetränktes Papier, in bogenförmige Einzelteile zerschnitten, die dann zusammengefügt, die plastische Form bilden. Dieses Zusammenfügen geschieht nun durch Zusammennähen der einzelnen Bahnen – und damit sind wir bei einem ganz zentralen Moment im Werk der Künstlerin, dem Nähen! Eine Technik, die auf Papier angewendet zunächst merkwürdig, ungewöhnlich erscheint, denn Papier heftet oder klebt man zusammen. Hier aber wird Papier zusammengenäht oder aber es werden Nähspuren neben Gemaltes, farblich Grundiertes eingebracht. So wird das Genähte, die Nähstruktur zu einer speziellen Art der Formung, der Gestaltung, ein ganz eigenes Stilelement. Der rein pragmatische Zweck des Zusammenhaltens spielt nurmehr eine untergeordnete Rolle, vielmehr erfährt man die Nähspuren als filigrane Striche, als grafische Gestaltungselemente.

Im Kunstbetrieb wird die Arbeit mit Nadel und Faden gemeinhin eher dem Kunst-Handwerk zugeordnet. Es gab zwar zu Beginn des 20.Jahrhunderts durchaus künstlerische Neuorientierungs-Bemühungen, etwa im Bauhaus, aber die nähenden, stickenden und webenden Frauen blieben doch in einer Außenseiterposition. Bis heute gilt die Unterscheidung in freie und angewandte Kunst.  Der Dreiklang von Nadelarbeit, Weiblichkeit und Heim klingt immer noch mit, wenn textile Praktiken im Kunstbetrieb auftauchen. Dennoch erfreuen sich diese Materialien im Mainstream-Kunstbetrieb seit den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts einer auffälligen Beliebtheit. Verknüpfung und Vernetzung  sind hierbei in unserem digitalen Zeitalter wichtige Stichworte, aber auch Gegen-Bewegungen wie z.B. „Slow Movement“. Die Rückbesinnung auf „Hand“- Arbeit im Medien-Zeitalter mit seiner immer rasanteren Beschleunigung tragen zur Erklärung dieses Phänomens bei.

Passend dazu hat Michaela Schwarzmann eine ganze Serie den Händen gewidmet – Sie finden sie im Obergeschoß – Hände, die gestikulierend  oder in Tätigkeit begriffen, dargestellt werden. Die Kunstgeschichte kennt ja durch die Jahrhunderte „sprechende Hände“, denken Sie nur an die berühmten Beispiele von Michelangelo oder auch an Werke von Leonardo, auf die Michaela Schwarzmann hier Bezug nimmt. Ihre, hier zu sehenden Hände sind allerdings nicht gezeichnet, sondern genäht! Die Faden-Enden bilden ein lockeres Liniengefüge, das den Aktionsraum über den Bilderrand erweitert. Sie sind in das Tun, man könnte auch sagen, in das Spiel der Hände einbezogen, bilden quasi deren Energielinien, sind gleichsam auch Verlängerung der Finger, um Raum und Umfeld zu erkunden.

Zeichnen nicht mit dem Zeichenstift, sondern mit der Nähmaschine finden wir bei sehr vielen Arbeiten der Künstlerin. – sehr beeindruckend etwa die Gletscherwanderung oben, wo blaue Fäden auf eisgrauem Transparentpapier den Weg durch eine Bergwelt nach“zeichnen“. Sie haben den direkten Vergleich beider Arbeitsmethoden, wenn Sie im kleinen Raum oben die gezeichneten Skizzen einer Reise durch die Bergwelt betrachten.

Das maschinelle Nähen wird ja ebenfalls von der Hand gesteuert und erlaubt durchaus viele Varianten – etwa, was Fadenspannung von Unter- und Oberfaden angeht; man kann mit beiden Fäden auch farblich spielen. Wenngleich das Nähen nicht direkt am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn stand, hat Michaela Schwarzmann  zu Anfang der 90er Jahre bei ihrem Studium an der Kunstakademie in Nürnberg textiles Gestalten belegt. Zuvor hatte sie bereits die Keramikschule in Selb besucht und dort Dekorentwurf gelernt.

Hier unten im Raum sehen Sie das Projekt zum Himmelsgarten der Kirchendecke von St. Michael in Bamberg, das 2015 mit dem Kunstpreis der Stadt ausgezeichnet und vor Ort in einem barocken Gartenpavillon realisiert wurde.

Im Unterschied zur Malerei der Kirchen-Decke wählt Michaela Schwarzmann eine ganz andere Technik. Das, was uns als bezaubernd leichte, poetische Arbeit erscheint, besteht aus lichtdurchlässigen Schichten, meist zwei Transparent-Papier- Lagen, wobei das vordere Blatt die Konturen der Pflanzen nachzeichnet, während darunter Blattwerk- und Blütenblätter wie im sfumato leicht unscharf erscheinen. Spannung entsteht durch die Inkongruenz der Blätter. Durch das Lineare hindurch öffnet sich der Blick in diffuse eigene Räume. Die übereinandergelegten Schichten –teilweise mit Einschlüssen von Samen – verbinden sich im Licht und entfalten erst dort ihre ganze sinnliche Ausstrahlung. Auch hier dürfen die Fäden sich frei bewegen, werden quasi zu Luft-Wurzeln der Pflanzen. Dementsprechend schieben sich einzelne Blütenblätter nach oben über das festgelegte Format.

Aus dem Deckengemälde wurden mehrere Pflanzen ausgewählt, u.a. die Erdbeere, Tomate, Wegwarte, der Mohn, die dabei aber nicht in konkrete Abbildlichkeit verfallen. In der Art der Umsetzung werden die Pflanzen zu tagtraumhaften Erscheinungen ihrer selbst.

Das Interesse an der Botanik zieht sich wie ein langer Faden durch das Werk von Michaela Schwarzmann. Nähe und wachse, so ist ja auch diese Ausstellung benannt. Immer wieder wird man auf die Formensprache der Natur gestoßen, von der sich die Künstlerin suchend und forschend stets aufs Neue anregen lässt. Die Faszination für Wachstumsprozesse bildet dabei einen Leitgedanken, angezeigt  durch  Wiederholung  und  Abwandlung  von  Formen  im  Rahmen einer sukzessiven, prozesshaften Veränderung.

Rhizomatisch breiten sich die Motive aus, überwinden und unterwandern die Gegebenheiten. Sie wachsen zu Strukturen, die sich in schleichenden Prozessen und mit vitaler Aktivität den Raum zu eigen machen. In ihren zarten und filigranen Arbeiten vollzieht die Künstlerin die Baupläne des Lebens gleichsam nach und macht sie für den Betrachter so vielfach erst sichtbar.

Zellartige Strukturen, genäht oder ausgeschnitten, bisweilen in mehreren Papier-Schichten übereinander verwendet sie als Symbol der vitalen Potenzialität, ein Grundvokabular des Lebens.

Es gibt Vieles zu entdecken im Werk der Künstlerin, vieles, was sich nicht sofort plakativ in den Vordergrund drängt. Kunstwerke auf Papier sind eher etwas Intimes, dafür geschaffen in Ruhe von Nahem betrachtet zu werden. Nehmen Sie sich Zeit für das Buch mit den Tuschezeichnungen, schauen Sie, wie mit Hilfe zufälliger, nur wenig steuerbarer Prozesse ein faszinierendes Farbspektrum entsteht, obwohl Michaela Schwarzmann nur schwarze Tusche verwendet. Es ist nicht unsere dingliche Alltagswelt, die hier zur Anschauung kommt, sondern eher eine Gegenwelt, die uns auf höchst ästhetische Weise in meditative Bereiche hineinführt.

Trotz des Titels „boat people“ wirkt auch das große Bild im Obergeschoss eher ruhig und zurückhaltend in der Farbgebung, – weiße Leimfarbe dominiert. Zugleich ist das Bild voller Rätsel, die wir zu entschlüsseln suchen, etwa indem wir die einzelnen übereinandergelegten Schichten, die Zwischenräume befragen, Vorder- und Hintergründiges erkunden. In Art einer Collage werden ältere Papiere wiederverwendet, mit Leimfarbe überdeckt, so dass nur Spuren bleiben.  Von oben schieben sich dann stilisierte, aber erkennbar vollbesetzte Boote ins Bild. Die angerissene Erzählung hält inne, ihr Ausgang bleibt offen.

Offene Räume zu gestalten ist sicherlich eines der zentralen Anliegen im Kunstschaffen von Michaela Schwarzmann. An uns geht der Auftrag, diese Offenheit anzunehmen und intuitiv mit all unseren Sinnen zu erfassen und dabei wünsche ich Ihnen nun viel Freude.

Dr. Barbara Kahle

Ausstellung „Hortus apertus“ –

offener Garten im Pavillon der Klosteranlage St. Michael Bamberg, 2021
Einführung von Dr. Matthias Liebel, Kunsthistoriker

 

Von ziemlich anderer Art sind die Arbeiten von Michaela Schwarzmann – inhaltlich, werktechnisch und auch motivisch. Nach ihrer Ausbildung an der Porzellanfachschule in Selb absolvierte sie ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Seit 1995 ist Michaela Schwarzmann mit einem eigenen Atelier in Eggolsheim als freischaffende Künstlerin tätig. Sie ist ebenfalls Mitglied im Berufsverband Bildender Künstler Oberfranken und seit einigen Jahren dessen stellvertretende Vorsitzende. Die Liste ihrer Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen ist eindrucksvoll. Sie reicht von Franken über Niederbayern bis nach München und mit Villach und Wien bis hinüber nach Österreich. Auch in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg waren ihre Werke verschiedentlich zu sehen, sogar in Asien – etwa in Kunming oder in Shanghai.

Anlässlich des ihr verliehenen Kunstpreises der Stadt Bamberg hat Michaela Schwarzmann 2015 übrigens genau hier, im Nordpavillon des Gartens von St. Michael, schon einmal ausgestellt: Damals ihre Arbeit „Himmelsgarten“, die seither als „Work in progress“ stetig weiter gewachsen ist und fortwährend gedeiht, ähnlich wie die bunt blühenden Blumen, die sie darauf zeigt. Ein Ausschnitt aus dieser 3 Installation ist auch heute wieder zu sehen. Dabei handelt es sich um fragil mit einander verbundene, in zwei Lagen motivisch gegenseitig sich durchdringende Transparentblätter mit darauf solitär dargestellten Blumen, die in ihrer seriellen Anordnung, so empfinden wir es wenn wir nach oben schauen, als Teil der Schöpfung Gottes bis in den Himmel ragen. Mit diesem eschatologischen Gedanken, aber auch mit der floralen Thematik bezieht sich diese Arbeit auf das berühmte Deckengemälde der Kirche von St. Michael, das ebenfalls mit pflanzlichen Motiven bemalt ist. Die Deckblätter der einander sich überlagernden Transparentpapiere zeigen das Blumenmotiv als Zeichnung, die mit der Nähmaschine ausgeführt wurde – eine Technik, die ich so bisher nur bei Michaela Schwarzmann jemals gesehen habe und die, bei aller Virtuosität der Fadenführung, den Umrissen der dargestellten Blumen in ihrer gestalterischen Zartheit eine überraschend starke expressive Note verleiht. Spannend auch zu sehen, wie einige Blätter durch übergreifende Fadenverbindungen in einander übergehen: wie organisch gewachsen, das Eine aus dem Anderen sich ergebend. Eine ganz wundervolle Arbeit, die von dem Licht des dahinterliegenden Fensters lebt und rückseitig beleuchtet wird. Dadurch kommt es zu einem changierenden Wechsel zwischen dem farbenfrohen Hervortreten der Blumen auf der hinteren Transparentschicht und deren Eskamotieren unter der vorgeblendeten fadenzeichnerischen Wiederholung. Alles auf dieser Arbeit entwickelt und bewegt sich und steht metaphorisch für die Prozesse des Wachsens und Gedeihens in der Natur.

Gestalterisch deutlich anders, obschon gleichermaßen auf natürliche Wachstumsprozesse ausgerichtet, nehmen sich die ebenfalls aus transparenten Papieren geschaffenen, diesmal allerdings durch Falten und Knicken zustande gekommenen Arbeiten auf quadratischen Bildformaten aus. Mit ihren durch parallaktische Verkürzungen zur Bildmitte hin dynamisch sich verjüngenden Mustern muten sie auf den ersten Blick wie abstrakte Kompositionen an. Das Überraschende an diesen Arbeiten, die bisweilen an mathematisch konstruierte Rhythmen der Op-Art erinnern (denken wir etwa an Victor Vasarely), ist deren tatsächlich pflanzlicher motivischer Ursprung, auf den uns die Künstlerin durch den Arbeitstitel „Phyllotaxis“ hinweist. Unter „Phyllotaxis“ versteht man die regelmäßige Anordnung von Pflanzenblättern, die spiralförmig ausgerichtet sein können, kreis- oder bogenförmig, alternierend dabei oder symmetrisch usw. Der Phyllotaxis begegnet man in der Botanik nicht nur bei der rhythmischen Anordnung von Pflanzenblättern, bei bestimmten Dachwurz- oder Kaktusarten beispielsweise, sondern auch bei Samenständen, wenn wir etwa an Sonnenblumen oder an die Margerite denken, und manchmal sogar bei Fruchtständen – erinnern wir uns beispielsweise an Artischocken, an die charakteristisch gemusterte Außenhaut einer Ananas oder an Weizenähren, Maiskolben oder sonstige Getreidefrüchte. Das Faszinierende an den Mustern der Phyllotaxis ist, dass sie in vielen Fällen dem „Goldenen Schnitt“ entsprechen – also unserem harmonischen Geschmacksempfinden sehr entgegenkommen. Genau diesen wirkungsästhetischen Ansatz des „Goldenen Schnittes“, der nicht nur in den subjektiven Idealvorstellungen des Menschen seinen Ursprung hat, wie man lange glaubte, oder als mathematisches Konstrukt existiert, sondern der bereits in der Natur eigengesetzlich verankert ist, übrigens auch in der Tierwelt – wenn wir uns an das Fleckenmuster von Wildkatzen oder an die Ornamente von Schuppentieren erinnern –, greift Michaela Schwarzmann mit ihrer Serie „Phyllotaxis“ auf und transponiert ihn in ihre eigene Bildwelten. Was am Ende entsteht, sind der Natur entlehnte rhythmische Pattern, die infolge ihrer reliefartigen Oberflächenbeschaffenheit überdies mit tages- und jahreszeitlich jeweils sich ändernden Lichtverhältnissen spielen und in unterschiedlichen Beleuchtungssituationen, aber auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus, auf den Betrachter immer wieder anders wirken. Die zarten reliefartigen Arbeiten scheinen permanent zu mutieren und geben auf diese Weise eindrucksvoll jene organischen Transmutationsprozesse wieder, denen alles in der Natur, das wächst und gedeiht, allzeit unterliegt. Das Licht spielt also eine wichtige Rolle für die Erscheinungswirkung dieser Werke, und ich möchte Ihnen gerne empfehlen, sich diese Arbeiten, von denen einige bis März nächsten Jahres in der internationalen Papierkunst-Ausstellung in Deggendorf zu sehen sein werden und von denen sich ein 4 weiteres Konvolut derzeit für eine Ausstellung in Japan befindet, im Lauf der nächsten Tage auch `mal bei Tageslicht anzusehen.

Auf ihren collageartigen Darstellungen aus der Serie „Wachstum“ schließlich spielt Michaela Schwarzmann mit der formalen Analogie von Wurzelwerk und Geäst und mit der architektonischen Kraft, die der pflanzlichen Natur als motivischem Impulsgeber innewohnt – ein Aspekt, der heute, in Zeiten des Klimawandels und der Frage, wie wir diesem Wandel durch die Gestaltung unseres täglichen Lebens aktiv Einhalt gebieten können, immer wichtiger wird. „Hortus apertus“ lautet der Titel der vorliegenden Ausstellung – „offener Garten“. Die hier gezeigten Arbeiten, die von Michaela Schwarzmann und die von Walli Bauer gleichermaßen, eröffnen dem Betrachter einen völlig anderen Blick, als wir ihn für gewöhnlich auf die Natur richten. „Offener Garten“ bedeutet nicht nur „allen zugänglich“, sondern bedeutet auch, der Natur anders zu begegnen, als wir es gemeinhin tun. Die hier gezeigten Werke helfen uns dabei, unseren Blick auf die Natur, ja unsere Weltsicht und unser manchmal vielleicht allzu sehr verfestigtes Verständnis von den Dingen zu erweitern. Der Garten ist „offen“, und wir sind es ebenfalls, sofern wir dazu bereit sind, der Einladung der Künstlerinnen zu folgen und unter ihrer Regie die Welt um uns herum mit anderen Augen zu sehen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine spannende Begegnung mit den hier gezeigten Werken und der Ausstellung einen guten Erfolg.

© 2021 Dr. Matthias Liebel, Kunsthistoriker